Sonntag, 1. November 2020

„Es ist wieder Weihnachten“ - Kurzgeschichte von Simone Henke

Bei meinem Partner Autoren Sternzeit war letzte Woche wieder der Eddie-Gruselfreitag, bei dem viele außergewöhnliche Kurzgeschichten entstanden. Da es für Autoren lehrreich ist, die Texte von Kollegen zu lesen, habe ich eine Geschichte von Simone Henke im Gepäck, die der Benutzung zugestimmt hat.

Eddie-Gruselfreitag „Das Haus deiner Kindheit“

Die Aufgabe am 23.10.2020 lautete für die schreibwütigen Autoren: „Das Haus deiner Kindheit steht schon lange leer und es zieht dich wie magisch an. Deine Eltern sind verschwunden und du bist nicht sicher, ob es mit dem Haus zu tun hat …“

Es ist wieder Weihnachten – Simone Henke

Es ist wieder Weihnachtszeit. Ich liebe diese Zeit. Das dekorieren, die Weihnachtslieder und die Geschichten, die immer ein Happy End hatten. Ich bummelte durch die Straßen, um für meine Kinder ein passendes Weihnachtsgeschenk zu ergattern. Bei einem Trödler schaute ich durch die Fensterscheibe, die etwas beschlagen war. Hier konnte man oft wunderschönes, altes Spielzeug aus vergangenen Jahrzehnten zu einem günstigen Preis erwerben. Der Trödler ist gerade dabei für einen Kunden eine große Vase bruchsicher zu verpacken. In der rechten Ecke, auf einem antiken Holztisch aus Nussbaum, bleiben meine Augen wie elektrisiert hängen. Das kenne ich doch?! Ich wischte an der Scheibe, um besser sehen zu können. Aber sie war von innen beschlagen, nicht von außen. Entschlossen betrat ich den Laden. Die Türglocke bimmelte leise. Wie magisch angezogen gehen meine Füße auf die rechte Ecke zu. Dort stand es. Ein Puppenhaus, wie ich es in meiner Kindheit hatte. Es war wunderschön bemalt, mit vielen Fenstern und Räumen. Als Kind hatte ich viel damit gespielt. Mutter-Vater-Kind waren die ersten Rollenspiele, die ich gekannt und mit Wonne durchgespielt hatte. Ich schaute durch das große Fenster mit dem Balkon. Dort hatte jemand eine Vaterpuppe drapiert, wie sie sich zu einer Lampe reckt. Das könnte meine Vaterfigur gewesen sein, wie sie eine Glühbirne auswechselt. Mein Vater war ein gekonnter Handwerker. Was immer defekt war - er konnte es reparieren. Er hatte mir auch dieses wunderschöne Puppenhaus gebastelt aus alten Holzabfällen aus der Tischlerwerkstatt, in der er gearbeitet hatte. Ich strich über das Holz. Die Farbe war abgeblättert, und an einigen Ecken hat der Zahn der Zeit genagt. Ich lief um den Tisch herum. Es sah exakt aus, wie jenes, das mein Vater mir baute. Er hatte es damals mit elektrischem Licht versehen. Ich suchte den kleinen Druckknopf, mit dem man das ganze Haus beleuchten konnte. 

„Suchen sie den Lichtschalter? Der ist leider kaputt. Aber mit ein wenig Geschick könnte man es wieder in Gang bringen.“ Der Besitzer des Trödelladens stand wie von Zauberhand hinter mir. Ich erschrak ein wenig und legte meine Hand auf mein Herz. 

„Mein Vater hatte mir solch ein Puppenhaus gebaut und eigentlich schaue ich, ob es tatsächlich mein Puppenhaus ist.“ Der Trödler lächelte. 

„Ich habe es vom Sperrmüll mitgenommen, gesäubert und ein wenig instand gesetzt. Können sie sich vorstellen, das jemand solch ein Kleinod wegwirft?“ Mein Herz schlug schneller, als ich in die Fenster des Puppenhauses hineinblickte. Es sah ganz exakt wie das, aus meiner Kinderzeit. Ob es tatsächlich mein Puppenhaus war?

Jetzt wollte ich es wissen. Ich öffnete das große Fenster weit und fasste mit meinem Zeigefinger hinein, um den Kleiderschrank, der in der hinteren Ecke stand, hervorzuholen. Ich schob ihn vorsichtig an den Rand des Fensters, kippte ihn und bugsierte ihn aus dem Fenster hinaus. Ich atmete einmal durch und öffnete die Schranktür. Ich wusste noch, was sich dahinter verbergen müsste, wenn es meins gewesen ist. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich sah, was sich hinter der Schranktür verbarg. Es war ein kleiner Zettel. Ich faltete ihn auseinander und las in der Schrift meines Vaters: „Frohe Weihnachten, Liebes.“


Ich wischte mir die Tränen ab und drehte mich zu dem Trödler: „Ich kaufe es. Es ist mit Sicherheit mein altes Puppenhaus.“ Der nette Besitzer des Trödelladens reichte mir ein Taschentuch. Er schaute mich an und meinte: „Wenn die Vergangenheit anklopft, dann sollte man die Tür öffnen und sie einlassen, damit das, was sie zu erzählen hat, geheilt werden kann.“ Er zog mir einen lächerlichen Preis ab für mein Puppenhaus, wofür ich sehr dankbar war. Als Alleinerziehende hat man die Scheine nicht locker in der Tasche sitzen. Doch hier wäre mir jeder Preis Recht gewesen. Ich musste es einfach mitnehmen.

Er bot sich an, mir das Puppenhaus ins Auto zu tragen. Als wir am Auto standen und der Kofferraumklappe sich schloss, fragte ich ihn: „Sie sagten vorhin, dass sie das Haus vom Sperrmüll weggeholt haben. Wissen sie noch in welcher Straße, das gewesen ist?“ Und er wusste es noch. Ich fuhr also nicht mehr in die Stadt zum Bummeln, sondern in die Ernst-Thälmann-Str. Bevor ich losfuhr, versuchte ich mich an dieses Weihnachten zu erinnern. Bilder purzelten mir durcheinander, wie Straßen aus Dominosteinen. Abends hatte wir noch Heiligabend gefeiert. Dann bin ich in mein Zimmer verschwunden. Irgendwann in der Nacht gab es einen Riesenlärm; davon bin ich aufgewacht. Ich weiß noch, dass ich durch den Spalt der Wohnzimmertür gelugt hatte. Männer mit schwarzen Uniformen hatten meinen Vater aus der Eingangstür gezerrt. Meine Mutter weinte.

Es war das letzte Weihnachten mit meinem Vater gewesen.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Früher sagte man, dass die Ernst-Thälmann-Straße in einem Arbeiterviertel liegt, heut wohl eher in einem sozialen Brennpunkt. Die wenigen Straßenlaternen gaben ein gespenstisches Licht. Vor der Hausnummer 5 war sie ganz ausgefallen. Ich stieg aus und musterte das Haus. Es war nicht mein Elternhaus. Plattenbau, einfachster Machart, gedämpfte Farben außen, perfekte Tarnung. Ich studierte die Klingelschilder. Um besser sehen zu können, schaltete ich die Taschenlampe meines Handys ein. Mein Mädchenname ließ sich nicht finden. Ganz unten rechts fand ich einen Hinweis auf den Hausmeister. Ich zückte mein Handy und rief die abgebildete Telefonnummer an. Er meldete sich sofort. Ich fragte ihn, ob er sich an ein Puppenhaus erinnern würde, dass auf dem Sperrmüll hier vor der Haustür abgestellt wurde. Er erinnerte sich daran und erzählte mir, dass er neulich die Wohnung eines Mietnomaden räumen musste. Atemlos fragte ich nach dem Nachnamen. 

„Schiller, glaube ich, hieß er. War ein ruhiger Mieter, nie zu sehen, ging hauptsächlich nachts vor die Tür.“ Aufgeregt tänzelte ich von einem Bein aufs andere. Sollte das mein Vater gewesen sein?

Im Gespräch erfuhr ich, dass die Wohnung noch leer war. 

„Gibt es die Möglichkeit, das ich mir die Wohnung anschauen kann?“, fragte ich atemlos. Zuerst lehnte er ab, weil sie noch nicht renoviert war. Mit Engelszungen redete ich auf ihn ein. Schließlich erklärte er sich bereit, zu erscheinen, um mir die Tür aufzuschließen. Wenig später kam ein kleiner, schwer untersetzter Mann auf mich zu. Er stellte sich als der Hausmeister vor. Er hatte eine Jogginghose an, sein Unterhemd hing über dem Bund, war aber nicht lang genug, um seinen Bierbauch zu verdecken. Er hatte nur eine schwarze Joppe übergeworfen, die so gar nicht zu der Jogginghose passte. Sein schwarzes, fettiges Haar war zu einem Zopf gebunden. Seine Schweinsäuglein musterten mich genau, bevor wir das Haus betraten.

Das Treppenhauslicht hatte wahrscheinlich die gleiche Krankheit wie die Straßenlaterne. Fällt aus, wegen Nichtbedarf. Er leuchtete mit der mitgebrachten Taschenlampe auf die Stufen. Im Schein der Lampe konnte ich viel Schmutz erkennen. Alte McDonalds Tüten lagen in den Ecken. Als wir die Treppe hinauf stiegen, schimpfte er vor sich hin, dass die Wohnung noch nicht hergerichtet sei und viele Schmierereien an den Wänden hätte. Ich sollte mich nicht wundern. Vor der Tür nestelte er umständlich den Schlüssel aus der Hosentasche. Dann flog die Tür auf. Etwas streifte mich. Ich spürte einen Luftzug wie ein Flügelschlag. Mir entfuhr ein spitzer Schrei. Mit einem Satz sprang ich zur Seite. Der Hausmeister leuchtete sofort hinterher. Es war nur ein Spatz. Ein Spatz, der sich verflogen hatte. Ich atmete einmal tief durch und betrat die Wohnung. Im Dunkeln wirkte sie sehr klein. Ich stand sofort im Wohnraum. Schaltete meine Handytaschenlampe ein. Und dann sah ich es. In roten Lettern stand an der mir gegenüberliegenden Wand wie ein Hilfeschrei: „Finde mich, Doreen“.

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